Haiti/Vatikan: Schmerzensschrei eines von der Welt vergessenen Volkes
Mario Galgano und Amedeo Lomonaco – Vatikanstadt
Erzbischof Vincenzo Paglia, Präsident der Päpstlichen Akademie für das Leben, hat vom 12. bis 20. Oktober die Karibik besucht. Vor allem in Haiti hat der Kurienerzbischof das Leid der Bevölkerung, die noch immer unter den Auswirkungen des Erdbebens vom 10. August und dem politischen Vakuum nach der Ermordung von Präsident Jovenel Moise im Juli dieses Jahres zu leiden hat, aus nächster Nähe erlebt. In dem Land leben 25 Prozent der Bevölkerung von weniger als zwei Dollar pro Tag; die Ernährungssicherheit ist vor allem in den südlichen Regionen alarmierend hoch. Nicht weniger alarmierend seien die Statistiken über den Zugang zu Lebensmitteln, Strom und Gesundheitsversorgung, stellt Paglia fest. Auch die Säuglingssterblichkeit sei dramatisch: 72 von 1.000 Kindern werden keine fünf Jahre alt. Siebzig Prozent der Bevölkerung seien unter 30 Jahre alt. Viele der jungen Menschen des Landes würden nicht auf eine Zukunft in ihrer karibischen Heimat hoffen, sondern auf ein Leben in den Vereinigten Staaten.
Geißel der Gewalt
Die wirtschaftliche Lage in Haiti, das von der Geißel der Gewalt geplagt werde, sei nach wie vor äußerst ernst. Banden und kriminelle Organisationen seien in verschiedenen Regionen des Landes weit verbreitet, zieht Paglia Bilanz. Entführungen seien zu einer der wichtigsten Einnahmequellen geworden. Erst in den letzten Tagen seien 17 amerikanische Geistliche, 16 Amerikaner und ein Kanadier, entführt worden.
Nach seinem Besuch in diesem gequälten Land schrieb Erzbischof Paglia einen Artikel über seine Eindrücke: „Wenn man mit eigenen Augen die Zahlen des Dramas in Haiti sieht – so heißt es in dem Text, der auf der Website der Päpstlichen Akademie für das Leben veröffentlicht wurde – ist man einerseits bestürzt, andererseits entrüstet, und es ist dringend notwendig, um Hilfe zu rufen.“ In Haiti, so Erzbischof Paglia weiter, „fehlt es völlig an Hoffnung für morgen, und das Heute ist nicht lebbar“. „Ich bin gerührt von einigen jungen Leuten der katholischen Bewegung Sant’Egidio, die sich mit der ‘Schule des Friedens’ dafür einsetzen, dass die Kinder eines Slums in der Hauptstadt so unbeschwert wie möglich aufwachsen können. Aber es ist wie ein Tropfen im Ozean, oder besser: in der Wüste des Lebens und der Hoffnung.“
Für Radio Vatikan/Vatican News berichtet Erzbischof Paglia von seinem Besuch in Haiti:
„Es bedeutet, ein Land zu finden, das von Gewalt, Hunger und Perspektivlosigkeit geprägt ist. Das löst Traurigkeit, Empörung und auch ein dringendes Bedürfnis nach einem Aufschrei aus. Als ich nach Haiti kam, habe ich gesehen, wie die Zahlen, die dramatischen Statistiken dieses Landes zu Gesichtern wurden. Gesichtern von Menschen, darunter auch Kinder, die leider nicht ihren fünften Geburtstag feiern werden…“
Er habe Straßen überquert, auf denen am Tag vor seiner Durchreise 17 amerikanische Missionare entführt worden waren. „Wenn Sie diese Orte ohne Begleitung betreten, werden Sie von einer der zahlreichen Banden überfallen. Ich frage mich, was die Zukunft für diese Bevölkerung, von der 70 Prozent unter 30 Jahre alt sind, bereithält. Ich besuchte einen der Außenbezirke von Port-au-Prince, einen Bezirk mit etwa 100.000 Einwohnern, in dem es in den Häusern keine Toiletten gibt. Es gibt auch keine Straßen – dafür aber eine Mülldeponie, wo man Müll und alles andere hinwirft… Es ist eine unmenschliche Situation. Es ist wirklich unmöglich zu glauben, dass es im 21. Jahrhundert so etwas geben kann.“